Meine Hausrunde ist eine Wanderung, die die Orte Halsdorf, Gemünden und Gilserberg in einem ungefähren Dreieck verbindet. Ich bin die Strecke in abgewandelter Form in den letzten Jahren mehrmals gelaufen, meistens gegen den Uhrzeigersinn, aber heute in der oben beschriebenen Richtung.
Da ich am frühen Vormittag bereits wieder zuhause sein will, stelle ich mir den Wecker auf kurz vor 3 in der Nacht, schnappe mir nach eindeutig zu kurzer Nachtruhe den gepackten Rucksack und laufe los. Das frühe Aufstehen wird durch einen prachtvollen, wolkenlosen Sternenhimmel belohnt. Sobald ich aus Halsdorf raus und auf freiem Feld bin, gibt es kaum noch Lichtverschmutzung und die Himmelsshow ist grandios. Neben den üblichen Sternbildern ist deutlich das Satellitenband Starlink zu sehen, das mir schon in früheren Nächten in diesem Jahr aufgefallen ist und sich wie eine Perlenkette über den gesamten Himmelsbogen zieht. Ich denke daran, wie die vielen Satelliten den Himmel verändern und dass es ein merkwürdiges Gefühl ist, dass meine Kinder die Sternenkonstellationen, die doch so sinnbildlich für Ewigkeit und Unveränderlichkeit über die Jahrtausende stehen, nie ohne all die anderen Lichter, die nun dort oben kreisen, sehen werden, wie ich sie noch in meiner Kindheit beobachten konnte.
Der Mond ist leider nirgends zu sehen, sodass es – sobald ich die Stirnlampe ausmache – richtig dunkel ist, vor allem wenn der Weg von Baumwipfeln überdacht ist. Im Finsteren zu laufen ist ganz anders als am Tag. Jede aufgeschreckte Taube, die plötzlich hektisch im Gebüsch flattert, jagt mir einen Schrecken ein, der Fuchs, der ein paar Meter vor mir im Lichtkegel meiner Lampe den Weg kreuzt, beschleunigt meinen Puls.
Als ich in Wohra ein Stück durch den Ort laufe, kommt es mir vor, als würden meine Schritte laut auf dem Straßenpflaster hallen. Später auf dem Deich der Schwemmwiese sehe ich schon von Weitem Autos mit angeschalteten Scheinwerfern stehen. Wer ist das denn? Um halb Vier nachts hier draußen im Nichts? Vor meinem inneren Auge werde ich Zeuge eines haarsträubenden Drogendeals, Menschenhandels, Atommüllskandals, was weiß ich, was die hier veranstalten! … Ist aber nur ein Arbeiter der zwei Tankwagen befüllt, entleert, keine Ahnung. Wenn das hier illegal ist, stört es den Fahrer anscheinend nicht besonders, dass ich Zeuge seiner Machenschaften bin.
Als ich das Ortsschild von Gemünden passiere, höre ich vier Schläge der Kirchturmglocke. Ich bin gut in der Zeit, im Schnitt fast 7 km/h – das wird sich nicht durchhalten lassen, aber es ist ein gutes Gefühl voranzukommen. Ich laufe durchs Industrieviertel, am Schwimmbad vorbei und lasse schon bald wieder die Häuser hinter mir, um auf die wegen ihrer blinkenden Signallampen weithin sichtbaren Windräder im Wald zuzusteuern.
Glücklicherweise sind die Wege hier dank der Zufahrten zu eben diesen Turbinen recht breit und gut angelegt, sodass man mit Stirnlampe gut laufen kann. Die Geräusche im dichten Wald rechts und links des Pfades lassen sich trotzdem nicht zuzuordnen. Manchmal bleibe ich stehen, weil ich glaube, etwas gehört zu haben, doch meistens ist es einfach nur sehr still, sobald meine eigenen Schritte nicht mehr zu hören sind.
Ohne Navi wäre ich hier aufgeschmissen. Mein ohnehin nicht besonders ausgeprägter Orientierungssinn würde mich vollkommen im Stich lassen. Doch ich kann den kleinen gepunkteten organgenen Linien folgen, welche die Waldwege kennzeichnen. Irgendwann muss ich dann aber so richtig in den Wald abbiegen. Ein Pfad ist das nicht mehr, eher eine Schneise, durch die vor Jahren einmal jemand Baumstämme gezerrt hat. Hier will man keinem Tier begegnen, keinem Reh, keinem Fuchs und schon gar keinem wütenden Wildschweinschwarm (Na gut, Rotte heißt das wohl. Dann ist es aber keine so schöne Alliteration).
Gegen fünf Uhr trete ich aus dem Wald heraus und werde von den ersten Anzeichen der Dämmerung begrüßt.
Natürlich kann man sich ein paar Brote schmieren und zum Wandern mitnehmen, aber ich brauch morgens meinen Tee und außerdem ist es gerade bei einer Nachwanderung nett, etwas Warmes frühstücken zu können. Deshalb hab ich meinen Gaskocher mitgenommen und bereite mir am Waldrand mit Blick über das sich vor mir ausbreitende, nach und nach aus der Dunkelheit auftauchende Tal meinen Porridge. Es ist ohnehin ein guter Zeitpunkt für eine Pause.
Jetzt freue ich mich umso mehr über die Rehe, die über die Äcker springen, den Fuchs und später den Hasen, der vor mir auf dem Weg sitzt. Sieht man ja häufiger. Ist trotzdem immer wieder schön. Gut gestärkt und motiviert vom Morgenlicht laufe ich nach Gilserberg. Die Bäckerei hat noch geschlossen, aber ich habe ohnehin keinen Bedarf.
Ich freue mich, für einen nicht ganz so schönen Streckenabschnitt hinter der Ortschaft spontan einen guten Alternativweg gegangen zu sein. Jedesmal findet man neue Schlenker, teils eine geradlinigere Streckenführung und damit Verkürzung, aber auch schönere Wege, weiter abseits der Straßen, die einen kleinen Umweg lohnen.
Weil ich beim Erkunden des neuen Wegs über eine Wiese muss und der Morgentau noch schwer auf den Grashalmen liegt, hole ich mir ordentlich nasse Füße. Als ich kurz vor Winterscheid bei dem Parkplatz mit der Würstchenbude die B3 überquere und mich wieder in den Wald schlage, ist bald ein hübscher Platz für die Hängematte gefunden. Unter dem Vorwand, die Socken trocknen zu müssen, mache ich es mir gemütlich und während ich so in die Baumkronen über mir schaue, die Bäume rieche und den Vögeln lausche, bin ich auch ziemlich schnell eingenickt.
Der Rest des Weges führt durch freundlichen Mischwald ziemlich direkt bis zurück nach Halsdorf. Ich winke in Gedanken Staffels, deren Hof in Josbach ich von hier oben sehen kann, lasse den Sportplatz rechts liegen und komme planungsgemäß um neun Uhr wieder zuhause an.