Wenn man allein ist, so kommt es mir vor, kann das die Naturwahrnehmung intensivieren. Das waren sehr eindrückliche Momente gestern Abend in der Stille der letzten Sonnenstrahlen. Allerdings hab ich noch lange wachgelegen und unruhig geschlafen. Laura meinte auch, ich sei die Tage mehr in meiner eigenen Welt gewesen als sonst, und es gibt ein paar Gedanken, die ich jeden Tag beim Laufen durchkaue, wieder und wieder, ohne voranzukommen. Ich rufe die nicht extra herbei, sie kommen einfach unvermeidlich und das schon viel zu lange. Aber ich brauch bis zum Ende der Wanderung ein Ergebnis, einen Plan, damit das aufhört. Integration scheint nicht das gewünschte Ergebnis zu bringen, vielleicht ist Loslassen doch das Mittel der Wahl. Und vielleicht muss auch das gewünschte Ergebnis nachjustiert werden, damit es sich wieder richtig gut anfühlt. Am Ende des Abends bin ich in den Epilog meines Buches geflüchtet. Heute werde ich mir in Fort William neuen Lesestoff besorgen.
Die Morgenroutine: Aus dem Schlafsack kriechen, Hose und Jacke drüberziehen, vorsichtig nach dem Wetter außerhalb des Zeltes gucken, Wasser filtern, Tee kochen, Porridge zubereiten, Sachen zusammenpacken, Sicherheitspipi machen, los …
Als um halb acht oben an der Straße der Bagger anfängt Steine zu schaufeln, breche ich gerade auf.
Auf dem Weg werde ich eine Weile niemanden treffen heute. Es ist zu früh für die Leute aus Kinlochleven, weil die erst die fiese Steigung überwinden müssen, die ich gestern Nachmittag noch hinter mich gebracht habe – die aus der anderen Richtung sind erst ab Mittag zu erwarten, und die einheimische Wochenendwanderer von gestern müssen heute wieder arbeiten.
Es ist so warm, dass ich die Hosenbeine hochkrempele. Die Hose mit den Zip-off-Beinen samt einiger anderer Dinge, die ich nicht wirklich brauche und deshalb unnötiges Gewicht darstellen, habe ich gestern Laura mit nachhause gegeben.
Nach etwa einer Meile komme ich zur ersten von zwei Ruinen auf dem Weg: Tigh-na-sleubhaich, vermutlich eine alte Farm, wo ich das Zelt noch einmal auspacke, um es für die zwei Nächte in Fort William, die es im Beutel bleiben wird, richtig trocken zu haben.
Ich komme gut und schnell voran. Die Gegend wird offensichtlich forstwirtschaftlich genutzt. Die schottischen Wälder erholen sich so ganz langsam wieder von jahrhundertelanger Ausbeutung.
Die ersten Häuser Fort Williams sind im Tal in ein paar Meilen bereits zu erahnen, da sehe ich ein Hinweisschild zu dem bronzezeitlichen Bergfort Dun Deardail, das auch auf meiner Karte verzeichnet ist. Ich überlege kurz, ob ich das heute brauche, aber es ist erst Mittag und der Blick über Glen Nevis von dort oben verspricht atemberaubend zu sein. Ich verstecke den Rucksack in einem Waldstück am Wegesrand und mache den Abstecher auf eine der nahegelegenen Anhöhen. Eine Mulde auf dem Gipfel und die Überreste eines steinernen Befestigungswalls zeugen von der Herrschaft eines vergessenen Stammes, der hier vor 2000 Jahren seinen Sitz hatte.
Wieder unten schultere ich erneut den Rucksack – ach, war das angenehm leicht zu laufen ohne den – und beginne den Weg hinab nach Fort William. Irgendwann bemerke ich, dass mein Buff nicht mehr am Brustgurt des Rucksacks hängt. Aaaaargh! Ohne den habe ich keine Mütze gegen den Wind, keinen Schutz vor der Sonne, keinen Schal und kein Warmhaltesäckchen für die Powerbank in kalten Zeltnächten. Zum Glück muss ich nur paar hundert Meter zurücklaufen und da liegt er. Puh.
Nach einem Telefonat mit Papa, der heute Geburtstag hat, erreiche ich das Fort William Backpackers, das leider nur mäßig einladend aussieht. Und Check-In ist erst ab 17 Uhr. Zwei Mitbewohnerinnen weisen mich aber freundlicherweise in die hiesigen Gepflogenheiten ein und es stellt sich heraus, dass ich schonmal in die Küche zum Teekochen, duschen, Wäsche waschen und ins WLAN kann, sodass die Zeit gut zu nutzen ist. Außerdem gehe ich in die Fußgängerzone zum durch eine Linie auf der Straße gekennzeichneten offiziellen Ende des West Highland Ways und esse im Wild Cat einen Bulgursalat, und vegane Suppe mit richtigem Brot, das man kauen kann. Ich merke richtig, wie sich die Zähne darüber freuen. Es fühlt sich gut an, nicht der Versuchung erlegen zu sein, zu McDonald’s zu gehen oder einer der Café-Ketten den Vorzug gegeben zu haben. Wenn man nette und potentiell interessante Menschen treffen möchte, ist es einfach sinnvoll, dort hinzugehen, wo die sich aufhalten. Und das ist eben definitiv nicht da, wo es die dicksten Fleischberge gibt.
Abends sitze ich noch mit der Belegschaft des Hostels, die heute ein BBQ veranstalten und mich eingeladen haben, auf der Terrasse und unterhalte mich hauptsächlich mit dem einzigen anderen Non-staff-member, einem Typen aus Manchester, der Taucher werden will.
24,5 km – 589 Hm – 5,2 km/h