Wieder eine trockene Nacht – Zelt trocken, außen und innen. Das ist eigentlich das größere Ding, dass kein Kondenswasser an der Zeltinnenwand hängt. Dachte ich mir ja, dass ich mich öfter darüber freuen würde, dass das Zelt richtig gut ist als dass ich ein Schnäppchen gemacht hab. Also ein Loblied auf das Hilleberg! Und beim Frühstück – Mmmh, Müsliriegel und Tee – scheint sogar die Sonne ein wenig, obwohl rund um am Himmel schon eher dunkelgrau die vorherrschende Farbe ist. Also ziehe ich mal lieber die komplette Regenausrüstung an und dann geht’s los.
Um wieder auf die Seite des Kanals zu gelangen, auf der ein Weg ist, suche ich mir in Ermangelung einer Brücke innerhalb der nächsten Kilometer ein pend, einen Tunnel unter dem Kanal, den die Bauern nutzen, um das Vieh von einem Feld aufs andere zu bewegen. Wieder auf dem Weg ziehe ich das ganze Regenzeug gleich wieder aus und laufe wie gestern lieber im Tshirt. So ein Rucksack wärmt beim Laufen ziemlich.
Pend ist das erste neue Wort, dass ich hier bewusst lerne. Als Verb kennt man das ja, aber als Nomen ist es mir neu. Ich gucke das gleich mal im OED nach: Es ist Schottisch für „An arch, an archway; an arched or vaulted roof or canopy; the vaulted ground floor of a tower or fortified building; a covered passage or entry; (in later use) especially one leading off a street frontage.“
Auf Deutsch ist das dann wohl sowas wie Gewölbe, vermutlich weitläufig auch mit ‚pendeln‘ verwandt. Das ist ja auch so eine Bogenbewegung. Und wie ich noch so meine linguistischen Überlegungen anstelle, komme ich an einer Schleuse vorbei, die mir noch ein neues Wort beschert: cill. Anscheinend ist damit die Oberkante der Schleusenmauer gemeint, denn Segelboote werden gewarnt, mit dem Mastbaum nicht daran zu stoßen. Eine schnelle Recherche ergibt jedoch, dass cill nur eine orthografische Variante von sill ist, das man ja z.B. von window sill kennt.
Auf der Höhe von Croy verlasse ich den Forth and Clyde Canal, um Croy Hill zu besteigen. Das muss im späten 19. Jahrhundert DER Picnic-Spot gewesen sein, als die Fairy Queen II hier Ausflügler aus Falkirk und Umgebung herbrachte, die eine Auszeit vom Rummel des geschäftigen Treibens der Städte suchten. Ich finde hier das erste fusselige Fellvieh, das weiter im Norden sicher noch häufiger zu sehn sein wird. Ok, für die fusselige Alliteration gibt’s keinen Poetenpreis, deshalb überlasse ich es W.H. Auden, den nächsten Programmpunkt mit den Worten seines Roman Wall Blues von 1937 anzukündigen:
Over the heather the wet wind blows,
I’ve lice in my tunic and a cold in my nose.
The rain comes pattering out of the sky,
I’m a wall soldier, I don’t know why.
Wieder bin ich im Gebiet des Antoniuswalls und man kann sich anhand der Landschaft tatsächlich ganz gut vorstellen, wie das hier mal gewesen sein könnte.
Zwei Wanderer, die mir entgegen kommen, loben mich dafür, dass ich den John Muir Way laufe: „Fantastic! Well done!“ Das kann ich vor 170m Steigung des Castle Hill, die mir unmittelbar bevorsteht, ganz gut gebrauchen. Und ein anderer Typ mit Hund beruhigt mich: „You’ve got a tough climb ahead of you. After that it’s duin hill.“ (Und ich muss das down als duin schreiben, weil er das so schön sagt – eigentlich klingt das wie ‚dünn‘)
Hier oben stand einmal das Hauptquartier der römischen Befestigungsanlagen. Man kann den Umriss der Grundmauern noch erkennen bzw. ist das vermutlich nachträglich hier so angelegt worden, um zu zeigen, wo was war. Ich sehe mir das alles an, lese die Informationstafeln und als ich wieder aufblicke, weiß ich nicht mehr, wo ich hergekommen bin. Keine Ahnung. Ich stehe auf einem Hügel, rundrum Bäume, in der Ferne Berge, ein paar Häuser. Völlig orientierungslos weiß ich nicht mal mehr, welche der beiden Linien auf meinem GPS-Gerät die richtige Richtung ist. Ich entscheide, dass es höchste Zeit für einen zweiten Energieriegel ist und dann laufe ich einfach in eine Richtung los und finde bald auch wieder das vertraute Logo des JMW an einem Gatter, das ich – ganz sicher bin ich mir selbst dessen in diesem Moment nicht mehr – noch nicht durchschritten habe.
Wieder auf dem Weg erreiche ich bei Twechar wieder den Kanal, dem ich bis Kirkintilloch folge. Ich bin jetzt rund 20 km gelaufen. Problem: Es ist noch nicht einmal ein Uhr und ich bin am Etappenziel. Und kein Zimmer, das auf mich wartet. Google Maps zufolge gibt es ein Stück stadteinwärts einige Restaurants und Takeaways, wo ich mir ein Mittagessen besorgen könnte, doch als ich dort ankomme, sind alle nicht nur gerade zu, sondern es sieht so aus als seien sie schon länger für immer geschlossen. Zwei Straßen weiter finde ich dann den vermutlichen Grund für das Imbiss-Sterben: ein McDonald’s. Na gut, dann eben das. Hier gibt’s eigentlich auch alles, was ich brauche: Essen, Kaffe, eine Toilette, freies WLAN und einen anonymen Platz, wo es niemanden stört, wenn ich hier ein zwei Stunden abhänge und Blog schreibe.
Weil ich einsehe, dass McDonald’s keine Dauerlösung ist, breche ich gegen drei wieder auf, um hinter Kirkintilloch einen Zeltplatz zu suchen. Als ich die bebaute Fläche hinter mit gelassen habe, ist der Weg so nett, dass ich erst mal noch weiter laufe. Es ist eh noch viel zu früh und außer einem Fußballfeld und einem Spielplatz bin ich auch noch an keiner passenden Wiese vorbeigekommen. Und mein Instinkt rät mir eine gutes Stück Weg zwischen meinen potentiellen Zeltplatz und das Rudel kiffender Teenager zu bringen, das an einer Art Grillplatz freundlich auf sich aufmerksam macht.
Ein paar Kilometer gehe ich mit einem Sportlehrer aus Edinburgh und merke, dass es doch auch ganz nett ist, alle paar Tage mal ein Gespräch zu führen, das länger als drei Sätze ist, bis dieser in Milton of Campsie abbiegt, um den Bus zurück nach Hause zu nehmen.
In Lennoxtown wird mir bewusst, dass ich, wenn ich heute noch weiterlaufe, bald mein Ziel für morgen erreichen werde, und es reicht auch eigentlich. Genug gelaufen. Ich biege auf einen Feldweg ab und suche mir eine Weide, die man nicht von der Straße oder einer Farm einsehen kann und die nicht ganz so sumpfig ist. So dauert es etwa eine Stunde, bis ich einen zufriedenstellenden Platz finde, womit ich meine gestern selbst aufgestellte Regel befolgen kann, nach der man innerhalb zivilisierter Gebiete vor 17 Uhr kein Zelt aufbauen sollte.
29,5 km – 339 Höhenmeter – 4,8 km/h Durchschnittstempo