Lennoxtown — Strathblane — Blanefield

Gestern Abend waren wieder die Rebhühner unterwegs, die auch schon die vorherige Nacht durch ihr heiseres und erstaunlich lautes Schreien zu verstehen gegeben haben, dass sie not amused über mein Eindringen in ihr Territorium sind. Oder sie haben sich über Gesellschaft gefreut. Wer weiß? Jedenfalls ist deren Taktik, erst möglichst lang in der Hoffnung, dass man sie nicht bemerkt, stillzuhalten, um dann plötzlich aufzuflattern und sehr schnell wegzurennen. Weiß gar nicht, können die nicht fliegen?

Als ich heute Morgen aus dem Zelt klettere, wobei ich zwei Rehe im Unterholz aufscheuche, hat die Welt um mich herum einen Durchmesser von etwa 50 Metern. Falls es außerhalb dieses Radius noch mehr gibt, ist sie in dichtem Nebel versunken und ich kann sie nicht sehen. Die Wiese ist sackenass, Gras und Moos scheinen sich richtig vollgesogen zu haben und die Luftfeuchtigkeit liegt bei geschätzten 150%, wobei es wieder nicht einen Tropfen geregnet zu haben scheint. Aber das Außenzelt ist von innen feucht, auch Hilleberg-Zelte funktionieren also nicht mit Magie, obwohl ich meinem Nallo 2 auch zugetraut hätte, als einziges Ding in der ganzen sichtbaren Welt hier draußen trocken zu bleiben.

Mein Plan für heute ist Folgender: Zeit lassen. Dann zum B&B, das ich gestern Abend noch gebucht habe, laufen. Dort Rucksack abstellen. Zur Glengoyne Distillery gehen, Tour machen, Whisky trinken, zurück laufen. Fertig.

Zeit lassen klappt schon mal richtig gut. Draußen ist es eh nicht so toll, deshalb frühstücke ich ein paar Erdnüsse und Tee, lese ein bisschen und bis dann das Zelt verpackt ist, dauert es auch. Als es aufklart, mache ich mich auf den Weg, der nach zwei etwas öden Kanal-Tagen mit richtig schottischen Ausblicken aufwartet.

Eine Erhebung namens Dunglass würde zum Klettern einladen und die Schäfchen auf der Weide um die nächste Wegkehre würden sicher auch gern geherzt werden, aber alles geht eben nicht. Vielleicht finde ich in Strathblane ein Pub, wo man ein Sonntagsessen bekommt. Heute gern irgendwas mit Fleisch. Und bitte viel.

Strathblane kündigt sich durch das Leuten von Kirchenglocken an. Richtig, es ist ja Sonntag und kurz vor elf, als ich vom Weg auf den Platz direkt vor der Kirche trete, wo – dem vollen Parkplatz nach zu urteilen – gleich der Gottesdienst beginnt.

Weil ich mir für die Wanderung vorgenommen habe, immer die Entscheidung zu treffen, die das bessere Erlebnis verspricht, auch wenn sie mit einem höheren Risiko (des Scheiterns, des Gesichtsverlusts, Anstrengung, …) verbunden ist – ich bin ja gerade nur für mich selbst verantwortlich, gehe ich nach einem Moment des Zögerns auf die Kirchentür zu, wo ich auch direkt mit Handschlag und vielen freundlichen Willkommensgrüßen in Empfang genommen werde. Man zeigt mir, wo ich am besten den Rucksack abstellen kann, ich bekomme ein Programm in die Hand gedrückt und dann geht es auch schon los. Die Kirche ist gut zwei Drittel voll, vor allem Menschen mit grauen Haaren, aber auch etwa 10 Kinder, für die es einen kleinen Kindergottesdienst im ersten Teil gibt. Jedes Kind sucht sich einen Erwachsenen, mit dem im Team es dann für jeden eine Tüte mit Gegenständen gibt, die zu einer Station im Leben Jesu passen. Es wird gesungen, dazu lernen wir eine bestimmte Abfolge von Gesten zu machen … God is always with me, behind me, beside me, in front of me … Dann beginnt der richtige Gottesdienst, ein paar Lieder, Gebete, eine Predigt darüber, dass wir nicht so schnell glauben sollen, wir wüssten, warum Gott etwas tut, besonders wenn es nach Strafe aussieht. In der Regel sei Gott eher gnädig und heiße die Menschen willkommen. Und weil in ein paar Tagen die Diamantene Hochzeit zweier Gemeindemitglieder ist, sind alle Kirchgänger nach dem Gottesdienst ins Gemeindehaus zum Lunch eingeladen.

Ja, ok, nice. Aber das wär ja doch etwas frech, da hinzugehen. Außerdem will ich ja zu meinem B&B und dann in die Distillery. Ich bleibe kurz sitzen, um die anderen Leute erstmal rausgehen zu lassen, da kommt eine ältere Dame zu mir, fragt was ich hier so mache und lädt mich ein, doch mitzukommen. Und dann kommt noch eine und fängt ein Gespräch an und ein älteres Ehepaar kommt dazu, deren Tochter in Holland lebt und dann noch eine Frau und die Dame, die mich am Eingang begrüßt hat und ich werde reihum vorgestellt: „This is Jens. He’s hiking in Scotland and visiting today.“ Da ich immer noch ein wenig skeptisch bin und außerdem finde, dass ich nach drei Tagen ohne Dusche etwas unangenehm rieche, nimmt eine Frau vielleicht so Mitte dreißig das in die Hand, sagt ich solle da jetzt mal mitkommen, es gebe jede Menge zu essen und ich würde ganz viele nette Leute kennenlernen. Na gut.

Vor dem Gemeindehaus spielt jemand Pipes, wir gratulieren dem Jubiläumspaar, die auch nochmal sagen, wie nett sie es finden, dass ich dabei bin. Der Pfarrer spricht noch ein Gebet, dann eröffnet ein Enkel, der wie ich wenig später erfahre, auch mal in Deutschland studiert hat, das Buffet. Das ist großartig, gigantisch, reichhaltig. Punkt. Mehrfach werde ich genötigt nachzunehmen und auch beim anschließenden Nachtischbuffet kräftig zuzulangen. Auch an Gesprächen und neuen Bekanntschaften hole ich jetzt nach, was ich die letzten Tage versäumt habe. Die sind alle so nett zu mir und dabei gar nicht nervig. Wie gut, denke ich und will gar nicht damit anfangen, wie anders der Tag verlaufen wäre, wenn ich dem ersten Unsicherheitsimpuls gefolgt und an der Kirche vorbei gegangen wäre. Da kann ich auch die dunklen Wolken, die gerade wieder aus Halsdorf herüber wehen, besser wegstecken, als ich satt und glücklich die Festversammlung verlasse und auf die in der Sonne liegende Landstraße Richtung Blanefield einbiege.

Die Ortsangaben bei diesen B&Bs sind manchmal ein wenig speziell. Heute heißt es schlicht Ardoch House, Blanefield. Das muss als Adresse anscheinend reichen. Nun ist Blanefield zwar nicht groß, aber das B&B offensichtlich weiter draußen, irgendwo im Bezirk Blanefield. Anscheinend verpasse ich eine Abbiegung, jedenfalls laufe ich am Ende durch sumpfige Wiesen, GPS in der einen und Handy in der anderen Hand, um schließlich ein Haus zu finden, das so ähnlich aussieht, wie das auf dem Bild bei booking.com. Ich finde nach einiger Zeit sogar die Leiter, um über den Zwei-Meter-Zaun zu steigen, der mich noch von meinem Ziel trennt, nur um dann festzustellen, dass das Haus eben doch nur so ähnlich aussieht. Zum Glück erscheint in diesem Moment ein Herr im Blaumann in der Tür, der mir den richtigen Weg weist.

Hier angekommen hab ich keine Lust mehr auf den Plan von heute Morgen. Ich bin eh noch so erfüllt von dem Erlebten, dass ich den Distillery-Besuch auf morgen verschiebe, wenn ich ohnehin daran vorbeikommen werde. Stattdessen baue ich mein Zelt auf der Wiese vorm Haus auf, damit es richtig trocken wird und ich das Innen- wieder ins Außenzelt einhängen kann. Die Dusche ist so willkommen wie nötig und dann sitze ich in der Sonne und schreibe erstmal.

Abends folge ich der Empfehlung der Gastgeberin und gehe zum Abendessen in ein Pub, das Blane Valley Inn, anderthalb Meilen vom B&B.

16km – 209 Hm – 3,4 km/h (komisch, bei Strathblane sagte das GPS noch 6,0)

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